Buddhistische Gemeinschaft Schweiz

 



Nicht-Ich, Wesenlosigkeit (Pali: anatta)

Ob auch, ihr Mönche, Weise in der Welt auftreten oder nicht - so bleibt es dennoch eine Tatsache und die feste, notwendige Bedingung, daß alle Daseinsformen keine dauernde Ich-Heit bilden. (A). Denn der Körper ist ohne Wesenskern, das Gefühl ist ohne Wesenskern, die Wahrnehmung ist ohne Wesenskern, die Unterscheidungen sind ohne Wesenskern, das Bewusstsein ist ohne Wesenskern. (A).

[Das Gefühl und das Selbst:] Wenn da, ihr Mönche, jemand sagen sollte: "Das Gefühl ist mein Ich (Attâ, Selbst)" - dem wäre also zu erwidern: "Es gibt, Bruder, drei Arten der Gefühle: das freudvolle Gefühl, das leidvolle Gefühl und das weder-freudvolle-noch-leidvolle Gefühl (Gefühle der Lust, Gefühle der Unlust und indifferente Gefühle). Welches dieser drei Gefühle betrachtest du als dein Ich? Zu der Zeit, da man eins dieser Gefühle empfindet, empfindt man die beiden anderen nicht. Diese drei Arten von Gefühlen nennt man vergänglich, durch Ursachen bedingt; sie sind dem Vergehen, der Auflösung unterworfen, denn ihr Wesen besteht in der Lostrennung, im Hinscheiden. Wer nun beim Empfinden eines dieser drei Gefühle also sagen sollte: "Dies ist mein Ich" - der sollte dann auch sagen: "Mein Ich erlischt durch das Verschwinden dieses Gefühles"! und damit erkennt er dann auch sein Ich selbst in diesem Leben als vergänglich an."

Wenn da, ihr Mönche, jemand sagen sollte: "Das Gefühl ist nicht mein Ich, mein Ich ist dem Gefühle unzugänglich" - dem wäre also zu erwidern: "Würdest du denn, Bruder, wenn kein Gefühlseindruck in dir stattfände, sagen: "Ich bin?"" "Wahrlich nicht, Bruder." Demnach würde es in aller Welt verkehrt sein, eine solche Meinung mit ihm zu teilen.

Wenn da, ihr Mönche, jemand sagen sollte: "Das Gefühl ist nicht mein Ich, aber es ist falsch, zu behaupten, dass mein Ich dem Gefühle unzugänglich sei. Es ist mein Ich, welches das Gefühl empfindet, denn Fühlen ist die Eigenschaft (Fähigkeit) meines Ichs" - dem wäre also zu erwidern: "Wenn die Gefühle, Bruder, zur gänzlichen Aufhebung gelangen sollten, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen, wenn also durchaus kein Gefühl stattfände, könntest du dann infolge des Nicht-Seins der Gefühle sagen: "Ich bin?" "Wahrlich nicht, Bruder." Demnach würde es in aller Welt verkehrt sein, eine solche Meinung mit ihm zu teilen. (D).

[Die Gedanken sind Nicht-Ich (anattâ):] "Die Gedanken sind das Ich" - eine solche Behauptung ist nicht angängig. Bei den Gedanken wird ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen. Wenn nun aber dabei ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen wird, da muss man die These: "Mein Ich entsteht und vergeht" als Ergebnis gelten lassen; darum geht es nicht an zu behaupten: "Die Gedanken sind mein Ich". Somit sind die Gedanken Nicht-Ich (anattâ).

[Das Denkbewusstsein ist Nicht-Ich (anattâ):] "Das Denkbewußtsein ist das Ich" - eine solche Behauptung ist nicht angängig. Beim Denkbewusstsein wird ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen. Wenn nun aber dabei ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen wird, da muss man die These: "Mein Ich entsteht und vergeht" als Ergebnis gelten lassen; darum geht es nicht an zu behaupten: "Das Denkbewusstsein ist mein Ich". Somit ist das Denkbewusstsein Nicht-Ich (anattâ).

[Der Verstand ist Nicht-Ich (anattâ):] "Der Verstand ist das Ich" - eine solche Behauptung ist nicht angängig. Beim Verstand wird ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen. Wenn nun aber dabei ein Entstehen und Vergehen wahrgenommen wird, da muss man die These: "Mein Ich entsteht und vergeht" gelten lassen; darum geht es nicht an zu behaupten: "Der Verstand ist mein Ich". Somit ist der Verstand Nicht-Ich (anattâ). (M 148).

Wahrlich, ihr Mönche, es würde mehr der Wahrheit entsprechen, wollte man anstatt der Seelen-Aspekte [A. d. H.: Seelen-Aspekte, Seele, d.h. die subjektive Seite des Menschen (nâma) setzt sich zusammen aus 1. vedanâ, Gefühl; 2. saññâ, Wahrnehmung; 3. sankhârâ, Vorstellungen (Unterscheidungen, Einbildungen, Strebungen, Fähigkeiten des Geistes); 4. viññâna, Bewusstsein] den aus den vier Elementarkräften [A. d. H.: die den Körper (rûpa) aufbauenden "vier Elementarkräfte" (dhâtu) sind: 1. vâyu, Beweglichkeit (wörtlich: Wind); 2. tejo, Strahlung (wörtlich: Feuer); 3. apo, Kohäsion (wörtlich: Wasser); 4. pathavî, Trägheit (wörtlich: Erde)] aufgebauten Körper als ein (dauerndes) Selbst (attâ) betrachten. Denn es ist offenbar, dass dieser aus den vier Elementarkräften aufgebaute Körper ein Jahr währt, zwei Jahre währt, drei, vier, fünf, sechs, ja sieben Jahre währt. Das dagegen, ihr Mönche, was man Seele, Subjekt oder Bewusstsein nennt, befindet sich bei Tag und Nacht in einem unaufhörlichen Wechsel, vergeht als dieses und tritt als ein anderes wieder in die Erscheinung. (S). Darum also, ihr Mönche: Was es auch für eine Form sei, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene oder fremde, grobe oder feine, gemeine oder edle, ferne oder nahe: alle Form ist, der Wahrheit gemäss, mit vollkommener Weisheit also zu betrachten: "Das gehört mir nicht an, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." Was es auch für ein Gefühl, was es auch für eine Vorstellung (Unterscheidung), was es auch für ein Bewusstsein sei, vergangenes, zukünftiges, gegenwärtiges, eigenes oder fremdes, grobes oder feines, gemeines oder edles, fernes oder nahes: jedes Gefühl, jede Wahrnehmung, jede Vorstellung, jedes Bewusstsein ist, der Wahrheit gemäs, mit vollkommener Weisheit also anzusehen: "Das gehört mir nicht an, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." (M 109).

[Vergangenes, gegenwärtiges, zukünftiges Dasein:] Wenn nun, ihr Mönche, jemand euch fragen sollte: "Seid ihr wohl in den vergangen Zeiten gewesen oder aber seid ihr in den vergangenen Zeiten nicht gewesen? Werdet ihr wohl in den zukünftigen Zeiten sein oder aber werdet ihr in den zukünftigen Zeiten nicht sein? Seid ihr jetzt oder aber seid ihr jetzt nicht?" So hättet ihr zu sagen, dass ihr in einer Hinsicht wohl in den vergangenen Zeiten gewesen seid, dass ihr in anderer Hinsicht jedoch in den vergangenen Zeiten nicht gewesen seid; dass ihr in einer Hinsicht wohl in den zukünftigen Zeiten sein werdet, dass ihr in anderer Hinsicht jedoch in den zukünftigen Zeiten nicht sein werdet; dass ihr in einer Hinsicht jetzt seid, dass ihr in anderer Hinsicht jedoch jetzt nicht seid. (D).

Wahrlich, nur derjenige, welcher die Entstehung aus Ursachen merkt, der merkt die Wahrheit, und wer die Wahrheit merkt, der merkt die Entstehung aus Ursachen. (M). Denn gerade so, ihr Mönche, wie von der Kuh die Milch kommt, aus der Milch der Rahm entsteht, aus dem Rahm die Butter, aus der Butter der Käse - und wenn es Milch ist, dieselbe nicht Rahm oder Butter oder Käse genannt wird; und wenn es Käse ist, derselbe durch keinen anderen Namen bezeichnet wird: genau ebenso, ihr Mönche, wird eine der drei Daseinsarten (vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Dasein) vorgestellt, diese nicht mit dem Namen der beiden anderen bezeichnet; denn diese, ihr Mönche, sind blosse Namen, blosse Redewendungen, Bezeichnungen im gewöhnlichen Verkehrsgebrauch. Von diesen macht allerdings der Erhabene Gebrauch, ohne aber durch sie irregeleitet zu werden. (D 9).

[Die beiden Extreme: Der Materialismus und der Glaube an eine persönliche Unsterblichkeit:] Wenn, ihr Mönche, die Ansicht besteht, dass das Ich mit unserem körperlichen Dasein identisch ist, so ist in diesem Falle ein heiliges Leben nicht recht möglich. Oder wenn, ihr Mönche, die Ansicht besteht, dass das Ich eines ist, aber ein anderes der Körper, auch in diesem Falle ist ein heiliges Leben nicht recht möglich.

Diese beiden Extreme jedoch wurden von dem Erhabenen gemieden, und es gibt eine mittlere Lehre, welche sagt: [Paticcasamuppâda, die Kausal-Kette:] Infolge der Verblendung (avijjâ) bilden sich die "Strebungen" (sankhârâ), [die sich in gutem oder üblem körperlichen, sprachlichen oder geistigen Wirken (kamma) äussern]. Dadurch ist das Erwachen des Bewusstseins (viññâna) bedingt. Von dem Dasein des Bewusstseins hängt die Unterscheidung in das anschauende Subjekt einerseits (nâma) und die angeschaute Welt als Objekt andererseits (rûpa) ab. Aus der Existenz der subjektiv-objektiven Welt entspringt die sechsfache Sinnestätigkeit (salâyatana). Durch diese entsteht Phassa, d.h. der Kontakt der sechs Sinnesorgane mit den objektiv angeschauten Sinnesgegenständen (d.h. den Formen, Tönen, Düften, Säften, Tastungen und Gedanken). Der Kontakt bedingt das Lust-, Unlust- oder indifferente Gefühl (vedanâ). Aus dem Gefühl entspringt das Begehren (tanhâ). Dieses erzeugt das Anhaften am Dasein (upâdâna). Das Anhaften am Dasein bewirkt den Daseinsprozess (bhava). Dieser erzeugt die Geburt (jâti). Die Geburt bedingt Altern und Sterben, Wehe, Jammer, Leiden, Gram und Verzweiflung. Also kommt es zur Entfaltung dieser ganzen Dukkha-Fülle.

Aber mit der vollständigen Auflösung und Aufhebung der Verblendung sind die "Strebungen" aufgehoben. Mit der Aufhebung der "Strebungen" ist das Erwachen des Bewusstseins aufgehoben. Mit der Aufhebung des Bewusstseins ist die subjektive-objektive Anschauung aufgehoben. Mit der Aufhebung der subjektiv-objektiven Anschauung ist die sechsfache Sinnestätigkeit aufgehoben. Mit der Aufhebung der sechsfachen Sinnestätigkeit ist der Kontakt (der Sinnesorgane mit der objektiv angeschauten Welt) aufgehoben. Mit der Aufhebung des Kontaktes ist das Gefühl aufgehoben. Mit der Aufhebung des Gefühles ist das Begehren aufgehoben. Mit der Aufhebung des Begehrens ist das Anhaften am Dasein aufgehoben. Mit der Aufhebung des Anhaftens am Dasein ist der Daseinsprozess aufgehoben. Mit der Aufhebung des Daseinsprozesses ist die Geburt aufgehoben. Durch das Nicht-Geboren-Werden ist Altern und Sterben, Wehe, Jammer, Leiden, Gram und Verzweiflung aufgehoben. Also kommt es zur Aufhebung dieser ganzen Dukkha-Fülle. (S).

Wahrlich, ihr Mönche, weil die Wesen, versunken in Nicht-Wissen (avijjâ), von dem Lebensdrang (tanhâ) geködert, bald hier und bald da sich ergötzen, deshalb kommt immer wieder ein neuer Keim zustande (M 43), und des Menschen Werke, ihr Mönche, die aus Begehren getan sind, die dem Begehren entspringen, durch Begehren veranlasst sind, in Begehren ihren Ursprung haben, werden dort zur Reife gelangen, eben dort erntet der Mensch die Früchte jener Werke, sei es in diesem, sei es in einem zukünftigen Leben. Des Menschen Werke, ihr Mönche, die aus Begierde, Hass und Verblendung getan, durch Begierde, Hass und Verblendung veranlasst sind, in ihnen ihren Ursprung haben, werden dort zur Reife gelangen, wo auch immer der Mensch sein mag. Und wo auch immer jene Werke zur Reife gelangen, eben dort erntet der Mensch die Früchte die jener Werke, sei es in diesem, sei es in einem zukünftigen Leben. (A).

[Aufgehobenes Kamma:] Durch den Nicht-Wissens-Überdruss jedoch, ihr Mönche, durch die Wissensgewinnung, durch die Zerstörung des Lebensdranges (tanhâ) wird jede weitere Keimbildung aufgehoben, und des Menschen Werke, ihr Mönche, die nicht durch Begierde, Hass oder Verblendung verursacht sind, nicht aus Begierde, Hass oder Veblendung entspringen, nicht durch sie veranlasst sind, nicht in ihnen ihren Ursprung haben, sind, insofern Begierde, Hass und Verblendung verschwunden sind, verlassen, ausgerodet, gleich einer Fächerpalme dem Boden entrissen, sind erloschen und keinem ferneren Treten ins Dasein ausgesetzt. (M).

Wahrlich, ihr Mönche, in dieser Hinsicht könnte jeder von mir mit Recht behaupten: "Ein Verneiner ist der Asket Gotama, die Aufhebung lehrt der Asket Gotama". Denn wahrlich, ihr Mönche, ich verkünde die Aufhebung; die Aufhebung nämlich der Begierde, die Aufhebung des Hasses, die Aufhebung des Verblendung sowie die Aufhebung der mannigfachen üblen, unheilsamen Gemütszustände. (Mahâvagga VI, 31).

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